MAN MUSS DAS UNMÖGLICHE VERSUCHEN, UM DAS MÖGLICHE ZU ERREICHEN.
Hermann Hesse
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BÜCHNER UND DER LEERE RAUM

 

Das übermütige, von feiner Ironie durchzogene Lustspiel gehört zu den Perlen deutscher Komödienkunst. Der äußerst anmutige und spritzige Dialog wechselt fortwährend zwischen witzigen Pointen und echten Herzenstönen; das innere Thema ist die Überwindung des Lebensekels in einer im Automatismus erstarrten Welt durch die Liebe.

So steht es in Reclam`s Schauspielführer Stuttgart von 1954 an. Um eine der Perlen deutscher Komödienkunst handelt es sich bei Leonce und Lena zweifelsfrei. Die falsche thematische Beschreibung allerdings hat seither die Sichtweise vieler Regisseure bestimmt. Und kaum jemand fragt mehr, ob diese Beschreibung dem Büchnerschen Text und seiner Intention gerecht wird. Dabei hat schon vor ebenso langer Zeit ein anderer großer Kopf der deutschen Literatur, Hans Mayer eine gänzlich andere Interpretation vorgelegt: Die Grundstimmung, die Büchner ein „Lustspiel“ schaffen lässt, ist nicht fröhlicher Mutwillen oder heiter lächelnder Spott, sondern Hass....

Hier liegt das Grundmotiv von LEONCE UND LENA – ...

Wie sieht es in einer Gesellschaft aus, die sich insgeheim durchaus des Nichts und der eigenen Nichtigkeit bewusst ist, diese geheime Ahnung aber unter rasender äußerlicher Hatz und Geschäftigkeit zu verstecken sucht.... Dass das Grundgefühl einer solchen Gesellschaft die Langeweile und, dank ihrer, die Konsumtionswut, die Gier nach immer neuen Sensationen sein müsse, war eine der entscheidenden Erkenntnisse Büchners....

Die Rezeptionsgeschichte der Nachkriegszeit wurde bis auf eine mir bekannte Ausnahme – einer Aufführung der Ostberliner Volksbühne Ende der siebziger Jahre – von dem Text der Schauspielführer bestimmt. Die atemberaubende Aktualität der Büchnerschen Texte und ihre poetische Beunruhigung konnte damit nicht auf die Bühne gebracht werden. So gilt auch hier der Satz, dass es notwendig ist, einen Autor gegenüber seiner eigenen Rezeptionsgeschichte in Schutz zu nehmen.

IST ES DENN WAHR, DIE WELT SEI EIN GEKREUZIGTER HEILAND, DIE SONNE SEINE DORNENKRONE, UND DIE STERNE DIE NÄGEL
UND SPEERE IN SEINEN FÜßEN UND LENDEN?

 

Aufführungstermine: 10./11./12./14./15./17./18.02.2012

und evtl. zusätzlich 27./28./29./30.03.2012


 


 

 

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Hochintensives Theatererlebnis
„Büchner“: Das komplette dramatische Werk an einem Abend von Berndt Rennes „Theater an der Landstraße“

„Theater an der Landstraße“ ist anders. Das ist schon der erste Eindruck, wenn das Spiel noch gar nicht begonnen hat: Das Verhältnis Bühne–Zuschauerraum ist genau reziprok zum Gewohnten in Theatersälen – hier stehen den Akteuren vielleicht 80 Prozent des Raums zur Verfügung; für die Zuschauer bleiben gerade mal zwei schlanke Reihen an der Wand des einstigen Physiksaales im Voith-Ausbildungszentrum Haintal.

Man darf das als durchaus sinnbildlich verstehen für das Wertverständnis des Theatralischen bei dieser durch einen ziemlich ausgefuchsten Profi (an-) geleiteten Truppe.

Was noch deutlicher wird, wenn man sich das Verhältnis Spieler–Betrachter vergegenwärtigt: 13 Akteuren sitzen vielleicht gerade mal doppelt so viele Zuschauer gegenüber. „Theater an der Landstraße“ ist also, dem ersten nominellen Anschein entgegen, eine ziemlich exklusive Angelegenheit.

Die dritte Inszenierung derTruppe nennt sich schlicht „Büchner“ – doch was heißt hier „schlicht“: So heißt das ehrgeizige Anliegen, das komplette dramatischeWerk von Georg Büchner, 199 Jahre nach der Geburt dieses wichtigen Autors des Welttheaters, an einem Abend auf die (achtstufige) Bühne im Haintal zu bringen.

Das komplette dramatische Oeuvre – das heißt das von Büchner selbst „Lustspiel“ genannte „Leonce und Lena“, dann sein Erstling „Dantons Tod“ und schließlich das lange unzugängliche, weltliteraturhistorisch maßgebliche Fragment „Woyzeck“. Das alles wird hier komprimiert und kompiliert auf zwei Stunden – auch das eine ungewöhnliche, dem Neu-Heidenheimer Profi-Regisseur Berndt Renne zu verdankende Leistung.

Der Abend beginnt mit „Leonce und Lena“: Da funkeln die absurd hintersinnigen Dialoge nur so – man kann Büchner hier mit großer rezeptiver Lust erleben.

Dargeboten wird das von einem Ensemble, das ausschließlich aus Amateuren besteht – die Renne zu einer Leistung führen, ja womöglich gelegentlich auch treiben konnte, die sehr beachtlich und streckenweise gar bewundernswert ist.

Da sind zuvörderst die beiden Titelrollenakteure Deborah Häcker, eine Bühnennovizin, die enormes Potenzial erkennen lässt, und der (wieder einmal) bravouröse Norbert Sluzalek.

Den beiden geistreich absurd Ennui pflegenden Königskindern aus den Reichen Popo und Pipi stehen begeisternd zur Seite u.a. der einstige Voith-Oberingenieur Dr. Peter Wengefeld (der sich seinen Jugendtraum, Theater zu machen, jetzt ebenso in- wie extensiv erfüllt). Weitere wichtige Akteure sind die Naturtheater-erfahrene Bettina Ostermaier oder der Giengener Architekt Uwe Kock, der ebenso neu wie frisch aufspielt, oder Frances Shepherd. Der „Landstraßen“-erfahrene Kurt Wehrmeister bleibt, als stammelnder Zeremonienmeister, erkennbar unter seinen Möglichkeiten.

„L+L“ ist ein Stuck von unglaublicher literarischer, politischer und philosophischer Dichte, das in zum Teil atemberaubenden Dialogen und sehr konsequent ausgeformten, artifiziellen Charakteren dicht, sehr beweglich und jeden Moment genau
durchdacht dargeboten wurde.

Regisseur Berndt Renne demonstriert hier beispielhaft seinen stupenden Theaterverstand und seine offenkundige Fähigkeit, Amateure an Grenzen und durchaus auch darüber hinaus führen zu können.

Nach der Pause folgt die ineinander verschränkte „Landstraßen“-Spezialkompilation von „Dantons Tod“ und „Woyzeck“. Ersteres, der dramatische Erstling des 23-jährig an „Faulfieber“ verstorbenen Büchner, wird halbszenisch bzw. monodialogisch dargeboten von Manuel Meiswinkel, der in seiner ersten von drei Szenen mit einem Spiegel auf die Stufen des originellen Theaterraums tritt und einen Dialog der so unterschiedlichen Revolutionäre Danton und Robespierre rezitiert. Das hat Dichte und Kraft und gibt einen vorzüglichen Eindruck von der großen Vielseitigkeit des Drei-Stücke-Schreibers.

Diese dramatischen Einschübe sind, passend, in blutrotes, flammenden Furor widerspiegelndes Licht getaucht. „Woyzeck“ spielt sich ab in weißem Licht – das dann freilich auch manche Schatten zeitigt.

Das beginnt hier mit dem Darsteller der Titelrolle: Admir Saracevic spielt einen sehr physischen, kraftvollen Woyzeck, der servil agieren kann, aber nicht die getretene Kreatur verkörpert, die vielseitig gedemütigt und schließlich zum Mörder wird. Auch ist seine Aussprache nicht immer von großer Deutlichkeit. Ihm zur Seite steht und sein Opfer wird Marie („Bin ich ein Mensch?“), die Bettina Ostermaier in großer Klarheit gibt.

In weiteren Rollen gefallen als „Doktor“ der Realdoktor Thomas Fritz oder Uwe Kock als Soldat. Eine Sonderrolle nimmt wieder Norbert Sluzalek ein als der Marie verführende Tambourmajor („Das Weib ist heiß“).

Renne hat Personal gestrichen wie auch Szenen, die er auch umgestellt hat: Die Einführungsszene Büchners ist hier final – mit einer tot im Hintergrund liegenden Marie. Der Dialog über „Tugend“ und ihre klassenspezifischen Möglichkeiten gewinnt dadurch ganz neue Aspekte.

Renne hat auch die Rolle eines „Kindes“ hinzugeschrieben (Lilly Wahl), das übernimmt, was in Büchners Fragment von 1837 die „Großmutter“ als anspielungsreiches „Märchen“ vorträgt.

Berndt Renne hat mit seiner „Büchner“-Totalen einen sehr bemerkenswerten Theaterabend geschaffen, der mit großer Sorgfalt und Einfallsdichte, mit dramaturgischem Nachdruck, szenischer Frische und theatralischer Verve für ein ungewöhnlich dichtes
Theatererlebnis sorgt. 

Manfred Allenhöfer